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»Es war ein völlig anderes Leben« Beim Projekt »Zeitzeu- Mit uns in Melverode Ulrike Schuh-Fricke berichtet für SÜDLICHT
gen« trafen Schüler der IGS Heidberg auf den Vormittagskreis der Begegnung. aus der Unterkunft an der Glogaustraße.
Ein wenig nervös wirken die Zehnt- eine Überschrift der Süddeutschen Zei-
klässler der IGS Heidberg schon, als tung vom 05.09.2017 – Deutschland
sie im Gemeindesaal der St. Thomas- wirklich die »Heimat der Bürokratie« ist.
Gemeinde sitzen. Sie sind hier, um die Dies äußert sich nicht nur an einer Viel-
Senioren über ihr Leben in der Kriegszeit zahl auszufüllender Formulare, sondern
zu befragen. Die Idee dazu hatte Pfar- vor allem an der in diesen Formularen
rer Eckehard Binder schon vor einigen verwendeten Sprache.
Jahren. Dank des Netzwerks »Gesund Gleichwohl kann die Initiative »Mit uns
älter werden im Heidberg« und Heid- in Melverode« bislang ein positives Fazit
berg AKTIV konnte der Kontakt zur IGS ziehen: nicht nur das Zusammenleben
schließlich hergestellt werden. »Zuerst von MelveroderInnen und den Geflüch-
wussten wir nicht, ob wir fünf Klassen teten klappt, sondern auch das Zusam-
schaffen«, erinnert sich Helga Viermann, menleben von Menschen aus sehr un-
die Leiterin des Vormittagskreises. Doch Helga Viermann (stehend) und die terschiedlichen Regionen der Welt und
auch am fünften Termin zeigen sich die Zehntklässler der IGS Heidberg. mit sehr unterschiedlichen sprachlichen,
Senioren begeistert. Textiles Gestalten: Auch hier können junge Frauen die neue Sprache lernen. kulturellen und religiösen Hintergründen
»Ich finde es schön, wenn sich junge dass hier Alt und Jung aufeinandertref- Sofort tritt eine Teilnehmerin des Vormit- Ende Februar war es so weit: die ersten ne Beobachtung: erstaunlicherweise in der Unterkunft selbst. Dass dieses
Leute für die Vergangenheit interessie- fen. Es macht Spaß, mit den jungen Leu- tagskreises den Beweis an und rezitiert Geflüchteten zogen in die Unterkunft an werden durch das Tun mit den Händen Zusammenleben so gut funktioniert, hat
ren, denn viele aus der Zeit leben ja ten zu reden. Meist geht es in den Ge- spontan einige Verse. Die Schüler stau- der Glogaustraße ein. Nach mehreren Schüchternheit und Hemmungen abge- sehr viel zu tun mit dem in der Unterkunft
heute nicht mehr«, erzählt eine Seniorin. sprächen um Bombenangriffe, die Flucht nen. Was früher zum Allgemeinwissen Monaten des Planens und Überlegens baut, sich auf Deutsch zu verständigen. tätigen Sozialarbeiter, mit der dort eben-
Ihre Tischnachbarin stimmt zu: »Es ist toll, aus dem Osten oder das Leben in der gehörte, gibt es heute nicht mehr. begann damit auch die Arbeit für uns Den in der Unterkunft in der Glogaustra- falls tätigen Verwaltungskraft, mit der
Nachkriegszeit. Gerade die Flüchtlings- Die Schüler der IGS erfahren auch, dass Ehrenamtliche. Dank der engen Zusam- ße wohnenden schulpflichtigen Kindern Unterkunftskraft (neue Bezeichnung für
problematik ist ja heute wieder aktuell.« damals an den Schulen oft Geschlech- menarbeit zwischen unserer Initiative helfen wir bei den Hausaufgaben, beim Hausmeister), und nicht zuletzt mit den
Dass im Seniorenkreis zwischendurch tertrennung herrschte. Oder dass Schüler und Herrn Rüscher (Koordinator Ehren- Entschlüsseln und Verstehen von Mittei- Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes. Sie
viel und gern gesungen wird, irritiert die früher Kräuter, Bucheckern oder Kartoffel- amt zur Integration von Flüchtlingen im lungen, E-Mails und Formularen, die die alle haben ein offenes Ohr für die Ge-
Schüler zunächst. käfer gesammelt haben. Auch Umzüge Fachbereich Soziales und Gesundheit Kinder aus den Schulen mit nach Hause flüchteten und helfen, wo und wie sie nur
Doch Helga Viermann schafft es schnell, gehörten in der Vergangenheit nicht zur der Stadt Braunschweig), der uns mit bringen, und wir erklären die Gepflo- können. Dies hilft auch uns bei unseren
eine lockere Atmosphäre zu schaffen. Tagesordnung: »Früher war man sehr Rat und Tat zur Seite stand, konnten genheiten an deutschen Schulen. Für Aktivitäten und Angeboten.
»In unserer Kindheit gab es weder Han- sesshaft.« wir sofort mit unserer Arbeit beginnen. die ganz Kleinen und ihre Mütter findet
dys, Spülmaschinen, Staubsauger noch Bewegend wird es, als ein Schüler nach Mittlerweile leben etwa 70 Menschen einmal in der Woche ein Mutter/Vater- Ulrike Schuh-Fricke ist Vorstandsmit-
Fernseher. Viele von uns hatten noch dem schönsten Erlebnis aus dieser Zeit aus 18 verschiedenen Nationen in Kind-Kreis statt. Während die Kleinen glied der Initiative »Mit uns in Mel-
nicht mal ein Spülklosett, sondern gin- fragt. der Glogaustraße, die aus sehr unter- aus Braunschweig mit den Kleinen aus verode«, die sich seit 2016 für die
gen auf ein Plumpsklo. Es war ein völlig »Als mein Vater aus dem Krieg heim- schiedlichen Gründen und Motiven nach sehr unterschiedlichen Regionen dieser Integration von Geflüchteten einsetzt.
anderes Leben«, erklärt sie. Mit dem Mi- kam!« antwortet eine Frau spontan. Deutschland gekommen sind und die in Welt spielen, kommen die Mütter mitei- Wer mitmachen möchte, meldet sich in
krofon in der Hand geht sie direkt auf Eine andere: »Als ich nach dem Krieg Deutschland bleiben möchten. nander ins Gespräch. Dabei wird auch der Kirchengemeinde Dietrich Bonho-
die Jugendlichen zu. zum ersten Mal mit einem Nachthemd Die Mehrheit der Geflüchteten, die in – fast nebenbei – Deutsch gelernt und effer, Melverode, Görlitzstraße, oder
»Wie war es, im Krieg zur Schule zu im Bett liegen konnte. Das war ein Erleb- der Glogaustraße lebt, besucht Sprach- gesprochen. im Internet unter: www.mit-uns-in-mel-
gehen?« lautet die erste Frage. »Wir nis! Wegen der Bombenangriffe hatte oder Integrationskurse, absolviert Prakti- Ein weiterer wichtiger Teil der Arbeit verode.de
hatten wegen des Kriegs fünf Jahre ich lange in Skihosen schlafen müssen.« ka, nimmt an Projekten zur beruflichen der Initiative ist, die Geflüchteten bei
keine Schule«, erinnert sich eine Frau. Die Schüler hörten gebannt zu. Ge- Qualifizierung mit integriertem Spra- externen Terminen (Behörden und/oder
»Wegen der Bombenangriffe fielen viele schichtsunterricht aus erster Hand – bei cherwerb teil oder arbeitet. Um die Ärzten) zu begleiten. Bislang wurde
Stunden aus. Das war zwar schön, aber Kaffee und Kuchen. Eine schöne Idee. Flüchtlinge beim Erwerb und Gebrauch mehrmals zum Job-Center und zur Aus-
ich hätte gern mehr gelernt«, bedauert Bleibt zu wünschen, dass »Zeitzeugen« der deutschen Sprache zu unterstüt- länderbehörde, zu Ärzten und bei der
eine Dame am Nebentisch. »Wenn wir im nächsten Jahr fortgesetzt wird. zen, bieten wir viermal in der Woche Wohnungssuche begleitet. Die Kontakte
keine Kohlen hatten, musste im Winter Die Geschichtslehrerin Frau Pohl: »Das Deutschstunden an, in denen wir zum zwischen Arbeitskreis und den Geflüch-
der Unterricht ausfallen. Einige brachten Erzählen von Geschichten aus alten Beispiel das in den Kursen Erlernte üben, teten vermittelt der Sozialarbeiter der
daher Briketts von zuhause mit.« Zeiten stellt eine unheimliche Bereiche- vertiefen und in denen wir miteinander Unterkunft. Mit den Begleitungen sollen,
»Welche Fächer hatte man damals?« rung für den Geschichtsunterricht dar. ins Gespräch kommen. neben der konkreten Hilfe im Einzelfall,
fragt ein anderer Schüler. Parolen, historische Ereignisse, die sonst Weiter bieten wir in Melverode für jun- auch Vorbehalte abgebaut und Vertrau-
»Deutsch, Lesen, Rechnen und Schön- auswendig gelernt werden und Bilder ge Frauen »Textiles Gestalten« an. Sie en in die Arbeit von Behörden geschaf-
schrift«, kommt es zurück. »Und viele Ge- aus den Geschichtsbüchern werden so lernen hier die verschiedenen Techniken fen werden.
dichte lernen!« ruft eine weitere Seniorin. Realität.«
und können sich kreativ betätigen. Mei- Dabei merken wir aber auch, dass – so